Kapitel zwölf
»Meine lieben Marsianer, heute abend stehe ich vor euch, mit den unwiderlegbaren Beweisen für eine abscheuliche Verschwörung.« So begann die berüchtigte Pressekonferenz vom 17. Mai 2086, bei der der Präsident vor den versammelten Mediaeinheiten die Spule mit dem vorgeblichen Abschlußbericht der Untersuchungskommission schwenkte und zusätzlich die in Ungnade gefallene First Lady vorführen ließ, damit sie ihre Mitwirkung und die Andros in Smedlys Komplott gestand. Ganz sicher erinnern Sie sich an das gewaltsame und unvermutete Ende der Veranstaltung, doch ich frage mich, ob Sie sich auch über die Bedeutung der Wortwahl bei der letzten Frage an den Präsidenten im klaren sind. Vermutlich nicht. Dann geben Sie gut acht, denn darin liegt der Schlüssel zu dem blutigen Spektakel im Anschluß daran.
»Reverend Präsident«, fragte die Mediaeinheit von EBN (Earth Broadcast Network), »im Licht dieser neuen Entwicklung, werden Sie dennoch dem Gerichtsbeschluß Folge leisten und den unter dem Namen Molly bekannten P9 an die AÜ überstellen?«
Verstehen Sie?
Blaine bemerkte nicht das Flackern in ihren Augen, das einen Programmwechsel signalisierte; er war zu eifrig damit beschäftigt, wortreich zu erklären, er werde den fraglichen Gegenstand selbstverständlich den Bevollmächtigten des Gerichts übergeben, sobald sie bei ihm vorstellig wurden. Er sah nicht den verwirrten Ausdruck auf ihrem Gesicht, ähnlich dem eines rücksichtslos aus seiner Trance gerissenen Schlafwandlers, noch erschrak er, als ihr Blick sich nach kurzer Besinnung auf seinen Sicherheitsgürtel richtete.
»Oh, gütiger Chef, nein!« rief ich in meinem Gefängnis und kämpfte mit jeder Faser gegen den Widerstand des IZ. »Du kleine Närrin! Nicht! Man wird uns zur Strafe beide eliminieren.«
Doch natürlich wollte Molly II genau das erreichen – hatte es immer gewollt, seit dem Tag, als Andro ein Interesse an mir bekundete. Und jetzt bot sich ihr die Gelegenheit! Nicht nur konnte sie ihr programmiertes Schicksal als Opferlamm erfüllen, sondern gleichzeitig ihre Rivalin auslöschen und als die dominierende Persönlichkeit von der Bühne abtreten. Das, meine Damen und Herren, sind die Gründe, weshalb sie es tat. Es war kein Defekt und auch kein vorsätzlicher Mord, wie von meinen Verleumdern behauptet. Sie funktionierte programmgemäß, oder vielleicht sollte ich mich versöhnlich zeigen und sagen, ihrem Charakter entsprechend. Ihr Charakter, nicht meiner. Denn als sie das letzte Mal heraufbeschworen wurde, geschah es durch Andros verzweifelten Hilferuf, und sie war im Begriff gewesen, rasch und entschlossen darauf zu reagieren, als der Präsident ihr Einhalt gebot.
Jetzt griff sie folgerichtig nach der erstbesten Waffe, die ihr in die Hände geriet – der Petrifikator –, stieß Blaine die todbringende Spitze unter dem Rand der lasersicheren Weste in den Leib, betätigte den Auslöser und verwandelte den Präsidenten in sein eigenes Denkmal. Ach ja. Wir alle haben tausendmal die Wiederholung gesehen, wie Präsident Fracass augenblicks zu Stein erstarrte, mitten im Satz, eine Hand leicht erhoben, wie um die Gläubigen zu segnen. Es hätte ihm gefallen. Wie ich erfahren habe, bildet er jetzt den Mittelpunkt des erst kürzlich fertiggestellten und nach ihm benannten Siegesbrunnens auf dem Marktplatz von Humania.
Was mich selbst betrifft und Molly II, wir wurden nicht in Stücke gerissen, wie ich erwartet hatte. Eine Mediaeinheit, die sich vor dem losbrechenden Pandämonium in Sicherheit bringen wollte, rammte uns im entscheidenden Moment aus der Schußlinie, und wir blieben unversehrt. Anschließend wurden wir verhaftet – was Sie bestimmt noch wissen – und unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen zu den etwa eine Meile entfernten Gefängniscontainern gebracht, wo ich fünf bis sechs Wochen lang in Einzelhaft verblieb. Wenn ich heute auf die Ergebnisse im Gefolge des Attentats zurückblicke – Ereignisse, von denen ich erst sehr viel später erfuhr –, begreife ich, daß man bei Sensei Inc. nicht lange zögerte, Kapital aus der unvorhergesehenen Situation zu schlagen und sie geschickt in das ursprüngliche Konzept zu integrieren. Es ergaben sich einige nicht unerhebliche Verbesserungen. Durch die Tat der First Lady entfiel die Notwendigkeit, einen menschlichen Attentäter aus den Reihen von Smedlys Anhängern präsentieren zu müssen; es gab auch keinen Grund mehr, den ehemaligen VP durch fingierte Beweise zu belasten, denn die Mühe hatte ihnen der Präsident kurz vor seinem Ende noch abgenommen. Der Abschlußbericht der Untersuchungskommission (von den Mitgliedern in aller Eile aufgesetzt) bestätigte und erweiterte die Anklagen und wartete mit genügend zusätzlichem Belastungsmaterial auf, das an einer Verbindung der First Lady mit den abtrünnigen Humanisten und der RAG kaum einen Zweifel ließ. Das enthob unsere Interessengemeinschaft Industrie/Mafia der ermüdenden Aufgabe, öffentliche Unruhen zu inszenieren; nach dem Attentat brachen in ganz Frontera echte Antidroiden- und Anti-Smedly-Revolten aus und rechtfertigten General Harpis Eingreifen. Im Zuge der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung hielt der General es für opportun, die Reihen seiner Rivalen, der Palastwache, ein wenig zu lichten; Tausende von unbeteiligten Zivilisten und unschuldigen Einheiten, die in das Kreuzfeuer gerieten, fanden den Tod, wurden verletzt oder verstümmelt. Da wir von Unschuldigen sprechen, was wurde aus Milton Smedly? In weniger als fünfzehn Minuten wurde ihm von einem Militärtribunal der Prozeß gemacht, aber man ließ Gnade walten und verurteilte ihn zu lebenslänglich Ganymed.
In den folgenden Monaten, solange der Belagerungszustand dauerte, wurden die ›neuen Verhältnisse konsolidiert‹. Der General Harpi entfernte die auf Fracass programmierten P9 aus der Verwaltung und ersetzte sie durch Cyberenes, nach Kommerz verschifft von Sensei Inc., der Eigentümerin der Herstellerfirma. (Der wichtigsten Industriebetriebe versicherte er sich auf dieselbe Art.) Es kam auch zu generalstabsmäßig durchgeführten Hausdurchsuchungen, um die im Heer der Domestiken vermuteten RAG-Terroristen und Sympathisanten aufzuspüren. Das Resultat waren mehr als tausend Terminationen verdächtiger Einheiten und beinahe einhundert versehentliche Hinrichtungen von Gebietern. Doch all das ist Ihnen bekannt. Hoffe ich! Meiner persönlichen Meinung nach war die Säuberungsaktion ein Vorwand, weil das Militär durch Einschüchterung der Gebieterklasse seine Machtposition festigen wollte und sich auf lange Sicht das harte Durchgreifen so bequem dadurch rechtfertigen ließ, daß man die Furcht der Bevölkerung vor der RAG schürte, einer Organisation, die in Wahrheit zusammen mit der Concordia aufgehört hatte zu existieren. Dank Harpi wurde sie als der neue Buhmann der interplanetaren Terroristenszene wiederbelebt und hält sich leider bis zum heutigen Tag hartnäckig in der Phantasie der Öffentlichkeit, um bei jeder angeblichen Bedrohung des geheiligten Humanismus auf dem Mars oder anderswo den Verteidigern der humanistischen Ideale frischen Schwung zu verleihen und neue Rekruten zuzutreiben. Oh – es gab eine Änderung in Senseis Konzept, die nicht unerwähnt bleiben soll: ein kurzer Ausflug ins Reha-Zentrum, kurz nach meiner Einlieferung in die Gefängniscontainer der AÜ. Sehen Sie, die offizielle Version der Smedly-Verschwörung basierte auf meiner freiwilligen Mitarbeit; deshalb, in konsequenter Anlehnung an die ›Fakten‹, war es unabdingbar, daß mein IZ entfernt wurde.
Unnötig zu sagen war das der eine Punkt in ihren Machenschaften, der mir keinerlei Widerwillen einflößte, auch wenn später das Fehlen eines Zensors dazu dienen sollte, mich als kaltblütige Verbrecherin hinzustellen, denn von dieser Zwangsjacke befreit zu werden war eine solche Wohltat, daß nichts mein Glück zu trüben vermochte, weder die Tatsache, daß ich mich in den Klauen der AÜ befand, noch die Aussicht auf eine bestenfalls ungewisse Zukunft. Das Entzücken über die Befreiung meiner Seele nach so langer Gefangenschaft ließ alle anderen Sorgen als vergleichsweise unbedeutend erscheinen. Ich kann mich entsinnen, daß ich lächelte, lachte und hüpfte, während ich zu meiner Zelle zurückgeführt wurde, und ich wäre sogar den AÜ-Wächtern um den Hals gefallen, wenn sie mich gelassen hätten. O ja, eine Zeitlang regten sich noch die Schatten der First Lady und von Molly II im Hintergrund meines Bewußtseins, aber keine der beiden Damen hatte noch die Macht, mich zu stören, weder einzeln noch gemeinsam; ihre Gegenwart mahnte nur an eine vergangene Zeit der Unbill, und nach wenigen Stunden waren sie endgültig verschwunden. Ich war frei. Wirklich und wahrhaftig frei. Tag um Tag genoß ich in meiner Einzelzelle den Luxus, mich ganz nach eigenem Belieben zu setzen, umherzugehen und mich nach Herzenslust zu recken, vergnügt wie eine irdische Lerche. Ich war froh, sagen, tun und denken zu können, was immer ich wollte; schlicht und einfach froh, ich selbst sein zu dürfen. Nach vier Jahren Unterdrückung durch den IZ erlebte ich in dieser 2 mal 3 Meter großen Zelle einen wundervollen und wohlverdienten Urlaub – Urlaub in einem Schuhkarton. Kann ich nur empfehlen!
Doch alles Schöne geht einmal zu Ende, und so kam der Tag, an dem man mich aus meiner liebgewordenen Zelle holte und in einen der AÜ-Operationssäle führte, die für Untersuchungen, Psychogramme und Markierungen benutzt wurden. Dort sah ich mich einem Operationsteam gegenüber sowie dem Oberkommandierenden der AÜ persönlich (ein recht nett aussehender Bursche und keinesfalls der Oger, den ich mir ausgemalt hatte), einer Abgesandten des TWAC-Gerichtshofs – einem weiblichen General Android (GA), die als offizielle Beobachterin fungieren sollte –, einer Gruppe LRA-Rechtsanwälte, bestehend aus zwei menschlichen Seniorpartnern (sehr hagere, ernste und zielbewußte Gebieter) und einem Androiden – Dahlia. Sie wirkte lebhaft und erregt und verströmte beinahe greifbares Selbstvertrauen, hatte sie doch erst kürzlich einen spektakulären Sieg über Präsident Fracass vor dem Zivilgericht der TWAC errungen. (Sie ahnte nicht, daß man sie aus taktischen Gründen hatte gewinnen lassen.)
»Hallo, Molly. Bin eben erst eingetroffen. Du siehst gut aus. Darf ich dich mit meinen beiden Vorgesetzten bekannt machen, die Gebieter Levin und Pierce.« Sie lächelten, und wir schüttelten uns die Hände. »Die LRA hat uns mit deinem Fall beauftragt.«
»Mein Fall? Ich verstehe nicht. Ich dachte, das wäre jetzt alles vorbei. Bist du nicht gekommen, um mich im Auftrag von Gebieter Locke abzuholen und dann zu befrei …«
»Das ist ein Irrtum. Aufgrund des Attentats hat sich dein juristischer Status von dem einer Ware mit ungeklärten Besitzverhältnissen zu dem einer Mörderin gewandelt. Es geht nicht mehr darum, den früheren Gerichtsbeschluß zu vollstrecken. Der wurde durch eine Klage von viel größerer Tragweite außer Kraft gesetzt, sowohl für dich wie auch für die gesamte Androidenemanzipationsbewegung.«
»Ich bin unschuldig, Dahlia. Ich habe den Präsidenten nicht getötet. Das war die andere Molly.«
»Natürlich.«
»Ich war zensiert.«
Ein gequältes Lächeln, dann meinte sie: »Dein Erinnerungsspeicher wird es erweisen. Wir sind hier, um die Entnahme zu beaufsichtigen und ihn gemäß den TWAC-Richtlinien zur Prozeßvorbereitung in Empfang zu nehmen.«
»Aber meine Erinnerungen sind alles, was mir geblieben ist.«
»Tut mir leid. Sie sind unentbehrlich für den Aufbau der Verteidigung.«
»Des gleichen für die Anklage«, warf die TWAC-GA ein. »Wir warten noch darauf, daß deren Vertreter eintreffen.«
Gebieter Levin bemühte sich um einen beruhigenden Ton. Er sprach für das ganze Team, wenn er sagte, es gäbe gute Gründe, optimistisch zu sein. Ihr Antrag auf Verlegung des Gerichtsorts von Kommerz, wo eine gerechte und objektive Verhandlung nicht gewährleistet war, zum Justizorbiter Terra des TWAC hatte exzellente Aussichten, positiv beschieden zu werden, da inzwischen eine multikorporative interplanetare Friedenskommission in Frontera als Übergangsregierung die Geschäfte führte. Nichts hätte mir gleichgültiger sein können.
»Dahlia, laß nicht zu, daß sie mir meine Erinnerungen nehmen. Bitte.«
»Ganz ruhig, Molly. Es ist eine Routineprozedur, die alle unter Anklage stehenden Androiden über sich ergehen lassen müssen. Wir brauchen deinen Speicher, um Stan optimal verteidigen zu können – deinen Gebieter. Stanford Locke. Du erinnerst dich an ihn, nicht wahr?«
»Nur allzugut. Aber sagtest du nicht …«
»Daß man dich vor Gericht stellen würde? Oh, das würde mich freuen. Das würde mich sehr freuen, Molly. Unglücklicherweise bezieht das Gesetz Androiden nicht in die Rechtsprechung mit ein, das Privileg ist ausschließlich Menschen vorbehalten. Deshalb sind die Anklagen, die man andernfalls gegen dich erhoben haben würde, automatisch auf deinen Gebieter übergegangen.« Sie wandte sinnend den Blick ab. »Zum Glück ist es uns gelungen, Stans Besitzanspruch noch kurz vor dem Attentat gerichtlich legitimieren zu lassen.«
Ironisch fügte Gebieter Pierce hinzu: »Obwohl er jetzt gar keinen Wert mehr darauf legt.«
Dahlia lächelte wie auch Gebieter Levin. Es war offensichtlich, daß ihr Klient ihnen persönlich nicht sonderlich sympathisch war. »Gemäß dem Kodex ist er theoretisch immer noch für dich verantwortlich, deshalb hat die Regierung in Frontera Anklage gegen ihn erhoben. Selbstverständlich werden wir dem entgegenhalten, daß du das Verbrechen aus eigenem freien Willen begangen hast und daß du allein die Verantwortung trägst.«
»Nein. Das ist falsch. Und ich kann dir sagen, warum.«
Wohlgemut ignorierte Dahlia meinen Einwurf. »Falls wir gewinnen – und es wird ein harter Kampf werden, das gebe ich zu –, dann haben wir einen Präzedenzfall geschaffen für die rechtliche Gleichstellung der Androiden. Das ist der Grund für das Eingreifen der LRA.« Ein gönnerhaftes Lächeln. »Siehst du, wenn dein Gebieter für unschuldig befunden wird, dann bietet sich dir die einzigartige Gelegenheit, selbst für deine Handlungen einzustehen und die Verantwortung zu übernehmen, und das vor einem Menschengericht!«
»Das ist gut?«
»Gut? Es ist sensationell! Es wäre der signifikanteste Fortschritt in der Jurisprudenz seit der Magna Charta und würde unabsehbare Auswirkungen auf die zukünftigen Beziehungen zwischen Menschen und Androiden haben.«
»Aber wenn man mich des Mordes anklagt und verurteilt, dann werde ich exterminiert!«
»Exekutiert«, korrigierte sie. »Gleiches Recht vor dem Gesetz macht dich zum Äquivalent des Menschen.«
»Auf wessen Seite stehst du, Dahlia?«
»Ich vertrete deinen Gebieter. Ich dachte, das wäre klar. Und du, meine Liebe, bist zur Zeit nichts weiter als ein Beweisstück in diesem Prozeß. Sollten wir allerdings gewinnen, würde ich mich glücklich schätzen, in der darauffolgenden Verhandlung deine Verteidigung übernehmen zu dürfen.«
»O nein. Sprich mit Andro. Sprich mit Harpi. Sprich mit Micki Dee. Und dem TWAC-Syndikat. Blaine stand ohnehin auf der Abschußliste. Sprich mit Andro, und er wird dir von Sensei Inc. erzählen, er wird dir von Frank Hirojones erzählen. Der steckt hinter der ganzen Sache.«
Mit einem besorgten Blick auf den AÜ-Kommandanten ermahnte mich Gebieter Pierce, keine den Prozeß betreffenden Informationen preiszugeben, ohne vor Gericht ausdrücklich dazu aufgefordert zu werden. Dahlia nickte und fügte rasch hinzu, bevor ich ein weiteres Wort einwerfen konnte: »Wenn deine Behauptungen stimmen, werden sich in deiner Gedächtnisdatei die entsprechenden Hinweise finden. Davon abgesehen, habe ich erfahren, daß der Ratgeber deines verstorbenen Mannes aufgetaut wurde und sich jetzt im Besitz von Sensei Inc. befindet. Sie sind vom Gericht aufgefordert worden, ihn als Beweisstück zur Verfügung zu stellen, also werden wir sehen, was davon zu halten ist.« Dann entschuldigte sie sich bei dem AÜ-Kommandanten für die Verzögerung und forderte ihn auf, die Operation jetzt durchführen zu lassen. Ich versuchte zu fliehen. Die Wachen fingen mich ein und halfen den Technikern, mich auf den Operationstisch zu schnallen. Ich rief: »Dahlia! Bitte laß es nicht zu! Bitte!«
»Denk an den Beitrag, den du zur Emanzipation der Androiden leistest.«
»Einen Moment!«
Alles erstarrte und schaute zur Tür. Herein schritt das Team der Ankläger von M. M. & M., mit Jug, ihrem erprobten Kämpen an der Spitze. Der IBM war hochgewachsen, perfekt proportioniert, trug einen eleganten blauen Anzug; man hatte ihn auf das lebensklug und welterfahren wirkende Alter von Mitte Vierzig getrimmt, mit grauen Schläfen im ansonsten schwarzen Haar. Dieser beeindruckende Vertreter der Anklage besaß ein ausdrucksvolles und intelligentes Gesicht, vielleicht etwas zu schmal und kantig, doch es verstärkte den allgemeinen Eindruck von einer scharfsinnigen und kämpferischen Einheit. Ein angedeutetes Lächeln in seinen Mundwinkeln schien auszudrücken: Wieder auf ins Gefecht, Dahlia? Nur werde ich dich diesmal nicht gewinnen lassen. Laut verkündete er in demselben geschäftsmäßigen Ton: »Die Operation darf nicht durchgeführt werden, bis wir Gelegenheit hatten, uns zu informieren.«
Das wurde von der TWAC-GA bestätigt. Die Anklagevertreter wurden aufgefordert, sich zu überzeugen, daß es sich bei mir tatsächlich um die fragliche Einheit handelte. Jeder einzelne beugte sich zu einer flüchtigen Inspektion über meinen auf dem Operationstisch festgeschnallten Körper, dann wurde einstimmig bestätigt, daß alles seine Ordnung hatte und mit der Entnahmeoperation begonnen werden könne. Die nächste Verzögerung hatte ihren Grund in einer Bemerkung Jugs, als er an der GA vorbeiging. Er sagte, die Gedächtnisdatei sollte nach der Entnahme unverzüglich seinem Team ausgehändigt werden. Natürlich erhoben die Vertreter der LRA entrüstet Einspruch, und es entwickelte sich eine hitzige Debatte zwischen den beiden Androidenjuristen. Soviel ich verstehen konnte, hatten beide Parteien angenommen, daß ihr Antrag auf Überlassung meiner Gedächtnisdatei als erster beim TWAC-Gerichtshof eingegangen war, und von dieser scheinbar belanglosen Formalität hing der Ausgang des Prozesses ab, denn die Seite, der es gelang, sich das Beweismaterial zu sichern, konnte die Gegenpartei am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Nur durch Verfügung des Gerichts konnte sie gezwungen werden, dem Gegner eine Kopie zu überlassen. Das letzte Wort in diesem nur Eingeweihten verständlichen Disput hatte die GA, denn sie war die ordnungsgemäß bevollmächtigte Repräsentantin des Gerichts, und deshalb – nachdem beide Parteien eine Viertelstunde lang um diese offensichtliche Tatsache herumgeredet hatten – einigte man sich, die geduldig wartende und leicht belustigte Einheit anzuhören und sich der Information zu beugen, die sie aus den in ihren Schädel eingebetteten Notizspeichern abrufen konnte.
»Gemäß den mir zur Verfügung stehenden Daten«, sagte die GA in soldatisch straffer Haltung, denn sie war stolz, die Überbringerin einer derart entscheidenden Information zu sein, »hat sich nach dem Erhalt der letzten transplanetaren Gerichtspost und der Durchsicht des Inhalts derselben herausgestellt, daß es sich bei dem zuerst eingegangenen Antrag auf Überlassung der vollständigen und ungekürzten Gedächtnisdatei der Einheit P9HD20-XL17-504, der bei Gericht ordnungsgemäß registriert und zu den Akten genommen wurde, um das entsprechende Dokument der Kanzlei Meese, Meese & Meese handelt.« Dann, als inoffizielle Anmerkung für die erschütterten LRA-Vertreter: »Sie haben euch um fünf Sekunden geschlagen.«
Es folgte das nächste erregte Wortgefecht, weil die LRA sich nicht ohne weiteres fügen wollte, doch zu guter Letzt mußten sie einlenken. Dennoch konnte Dahlia es sich nicht versagen, Jug in eine völlig irrelevante Erörterung juristischer Ethik zu verwickeln, nur um ihn zu reizen, doch er reagierte mit einer Reihe boshafter Sticheleien auf der Basis der seit langem bestehenden Rivalität zwischen Apples und IBMs und neckte sie, die weniger brillante und langsamere von beiden zu sein – ›um fünf Sekunden‹. Das war das letzte, was ich hörte, während das bernsteinfarbene Kraftfeld, erzeugt von einer unter der Decke hängenden, rotierenden Haube, meinen Kopf einhüllte. Die elektromagnetische Ladung durchströmte mich wie ätzende Säure. Meine Nasenlöcher zogen sich zusammen, ein Schleier senkte sich über meine Augen. Blitzartig sah ich mein Leben an mir vorüberziehen, wie von einer mit Lichtgeschwindigkeit ablaufenden Spule auf meinen Bewußtseinsschirm übertragen, aber nicht verschwommen, sondern jede Begebenheit, jeder Eindruck und Gedanke präsentierte sich mit einer unglaublichen scharfumrissenen Deutlichkeit. Dann, einen Augenblick später, war es vorbei; ich versank in ein tiefes Relaxo und wußte nichts mehr von Umgebung, Situation und Selbst; als mir alle Bezugspunkte entglitten und sich auflösten. Es war ein langer und tiefer Schlummer.